Der Erfahrbare Atem

„Atem ist eine führende Kraft in uns, Atem ist Urgrund und Rhythmus des Lebens, Atem – ein Weg zum Sein.“ - Prof. Ilse Middendorf

Mögliche Formen des Umgangs mit dem Atem

Wir unterscheiden drei Möglichkeiten, mit dem Atem zu arbeiten: ihn willentlich einzusetzen ihn im Unbewussten zu belassen ihn kommen zu lassen, ihn zuzulassen und bewusst dabei wahrzunehmen.

Den Atem “kommen zu lassen” wurde von Ilse Middendorf als das wichtigste Element der Methode bezeichnet. Sie unterschied damit den „Erfahrbaren Atem“ von Beginn an von Methoden, die ihn willentlich verwenden oder ihn im Unbewussten belassen. Was damit gemeint ist,hat Ilse Middendorf in folgendem Satz zusammen gefasst: „Ich lasse meinen Atem kommen, lasse ihn gehen und warte, bis er von selbst wiederkommt.“

AtemtherapeutInnen des Erfahrbaren Atems nach Ilse Middendorf® arbeiten sowohl atemtherapeutisch wie atempädagogisch.

Im therapeutischen Umgang mit dem Atem unterscheiden wir zwischen: a) der diagnostisch-therapeutischen Arbeitsweise b) der salutogenetischen Arbeitsweise

Atemtherapeutinnen, die die diagnostisch-therapeutische Arbeitsweise vertreten, fügen dem Erfahrbaren Atem äußere Aspekte hinzu, indem sie den psycho-sozialen Hintergrund der KlientInnen mit all seinen Auswirkungen („Störungssyndromen“ usw.) in die Therapie mit einbeziehen.

„Atemtherapie Middendorf®“ ist demgegenüber eine salutogenetische Weise, mit dem Atem umzugehen. Der Begriff leitet sich vom lateinischen „salus“= gesund, in Ordnung, heil, gerettet, sicher, erlöst und vom griechischen „Genese“ = Entstehung ab. Der Atem stärkt das Gesunde, wodurch das „Kranke“ an Kraft und Einfluss verliert. Der Atem wendet sich an jene Teile oder Gegenden des Körpers, die dem Übenden bereits bewusster geworden sind, um so die ihm unbewussteren zu erschließen.

Im pädagogischen Umgang mit dem Erfahrbaren Atem steht die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten im Vordergrund. Vor allem geht es dabei um die Entwicklung und Bewusstwerdung dessen, was wir Empfindungen nennen (die wir von Gefühlen unterscheiden) und nicht um die kognitive Bewusstwerdung. Empfindungen beruhen auf der wahrnehmenden Funktion des Nervensystems. Gefühle sind die Bewertungen dessen, was vorher empfunden wurde.

Ist der Atem zugelassen, wächst ein Empfindungsbewusstsein, das den Körpers zu immer mehr spürbarem Leben erweckt. Der Körper wird so zum ganzheitlich erfahrbaren Leib.

Mit der Erfahrung der KlientInnen, den Atem kommen zu lassen und empfinden zu können, wachsen die Fähigkeiten, sich zu sammeln und dem Atem – in Balance zwischen Hingabe und Achtsamkeit – immer mehr die Führung überlassen zu können. Damit steigern sich:
die „Atemfähigkeit“,
die „Empfindungsfähigkeit“ und
die „Sammlungsfähigkeit“,
und mit diesen die Fähigkeit, „anwesend“ zu sein. Gleichzeitig wächst bei diesem Prozess das, was wir mit „Durchlässigkeit“ für die Atembewegung bezeichnen und es ändert sich die „Haltung“ des Menschen, sowohl die seines Körpers als auch die bezüglich seiner Sicht auf vorhandene Probleme, Störungen und Krankheiten.

Der oben beschriebene Atem-Bewusstseinsprozess ist also keine „Therapie“ im üblichen Sinn, bewirkt aber dennoch häufig die Heilung von Störungen und Krankheiten, weshalb wir im Erfahrbaren Atem sagen, die Heilung von Krankheiten erfolge „nebenbei“.

Die Heilkraft des Atems

– von der alle bekannten Hochkulturen wussten – bezeugt sich darin, dass der Atem (wie keine andere Körperfunktion) auf das Engste mit allen physischen und psychischen Vorgängen im Menschen vernetzt ist:

  1. mechanisch besteht eine Wechselwirkung zwischen Atembewegung und zahlreichen Körperorganen und deren Funktionen;
  2. kreislaufdynamisch hängt die Atembewegung eng mit der Herzfunktion und dem Körper- und Lungenkreislauf zusammen;
  3. chemisch wird über die Atmung die Sauerstoffversorgung, der Kohlendioxidspiegel, die Ionenkonzentration und damit die gesamte Stoffwechsellage beeinflusst;
  4. nervös-reflektorisch wirkt sich die Atmung auf die Organe und deren Funktionen über nervliche Verflechtungen aus;
  5. zentral-nervös besteht ein tiefgreifender Einfluss der Organmotorik, vor allem der Atem-Motorik, auf die Großhirn- und Bewusstseinsvorgänge des Menschen und damit auf sein Empfindungs- und Gefühlsleben.

In der Formatio Reticularis, einem komplex vernetzten Zentrum in der Tiefe des Stammhirns, strömen alle Informationen zusammen, die im Körper bzw. Gehirn entstehen. Jeder kleinste Reiz, von außen oder innen kommend, verändert die Art und Weise zu atmen, was vom Klienten differenziert erlebt und empfunden werden kann.

Die Bedeutung der Atemarbeit im Berufsleben

Neben den oben genannten Zielen und Möglichkeiten der Atemarbeit mit dem Erfahrbaren Atem gibt es speziellere Aspekte: so wird von bestimmten Berufsgruppen geschätzt, dass er die Leistungsfähigkeit und die Qualität der Arbeit steigert. Eine Haltung zum Beispiel, die nicht starr, sondern vom Atem getragen ist und elastisch um eine Mitte schwingt, verleiht allen SängerInnen, MusikerInnen, SchauspielerInnen und TänzerInnen wesentliche Ausdruckskraft. Auch das Lampenfieber kann gemeistert werden.

Eine lebendige Haltung ist ein Kriterium. Durchlässigkeit und Empfindungsbewusstsein für den Leib sind weitere Elemente, die sich auf die Qualität künstlerischer Aussagen auswirken. Tritt zum Beispiel bei StreicherInnen die Bogenführung mit dem Atemrhythmus in eine harmonische Beziehung, wird die Klangqualität (auch für Laien) hörbar besser. LehrerInnen kann der Atem helfen, auch nach mehreren Stunden Unterricht die Tragfähigkeit der Stimme nicht zu verlieren und ihre ausgeglichene Haltung wirkt sich auf die Kinder beruhigend aus.

Auch ReferentInnen machen vielfach die Erfahrung, dass sie nach mehrstündigen Vorträgen weder mit der Stimme Probleme haben, noch übermäßig angestrengt sind.

Für alle Berufe, bei denen Menschen lange sitzen müssen (zum Beispiel im Büro und am Computer), kann der Atem ein Empfindungsbewusstsein vermitteln, das ein ermüdungs- und beschwerdefreies Sitzen ermöglicht, so dass sich z.B. die Schultern nicht mehr verspannen. Auch in Berufen, bei denen Menschen lange stehen müssen, hilft ein durch den Atem geschultes Körperbewusstsein zu vermeiden, dass die Beine schmerzen.

Berufsbild und Standort des Erfahrbaren Atems

Bisher gibt es keine geschlossene psychologische Theorie, die die Erfahrungen mit dem Atem auch nur annähernd zu beschreiben in der Lage ist. Das Berufsbild und die Standortbestimmung finden Sie auf unserer Website. Auf Wunsch versenden wir diese auch per Post.

Der/die TherapeutIn im Erfahrbaren Atem

Zum Abschluss möchten wir auf den Begriff “Therapeut“ eingehen und damit unsere Haltung verdeutlichen, die wir gegenüber den KlientInnen haben. Im Allgemeinen wird Therapeut mit “Heiler” übersetzt. Das griechische Verbum «therapeuein», von dem das deutsche Wort Therapeut abgeleitet ist, bedeutet behandeln, pflegen, verehren und begleiten und erst zuletzt heilen. Der/die TherapeutIn ist also vorwiegend “DienerIn” und BegleiterIn des Atems ihrer KlientInnen. Er/sie ist immer auch LehrerIn, denn sie lehrt den KlientInnen Übungsweisen, die diese bestimmte Atemerfahrungen machen lassen. Insofern ist die Atempädagogin auch heilerisch wirksam und die Atemtherapeutin auch lehrend tätig.